Die Nationalsprache der Juden oder eine jüdische Sprache?
Ein Projekt der Augsburger Germanistik und Variationslinguistik widmet sich mit internationalen Partnern der Czernowitzer Sprachkonferenz von 1908
Augsburg/CR/KPP – Mehrsprachigkeit bestimmte den Alltag der mittel- und osteuropäischen jüdischen Gemeinschaften im frühen 20. Jahrhundert. Doch verschiedene jüdisch-nationale Bewegungen diskutierten bald über die Festlegung und Förderung einer oder mehrerer jüdischer Nationalsprachen. Mit dieser Diskussion und der Frage, wozu sie führte, befasst sich jetzt ein interdisziplinäres Projekt der Augsburger Germanistik, das auf zwei Jahre von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) finanziert wird. Während im jüdischen Alltag des späteren 19. und frühen 20. Jahrhunderts vor allem die Umgebungssprachen wichtig waren, konkurrierten im Konflikt um die Frage der Nationalsprache der Juden vor allem das Jiddische und das Hebräische. "Ein Höhepunkt dieser Konkurrenz und Diskussion war die Czernowitzer Sprachkonferenz von 1908", erläutert die wissenschaftliche Koordinatorin des Projekts, Carmen Reichert, die zur Übernahme dieser Aufgabe an die Universität Augsburg wechselt. Während die einen hier Jiddisch als Nationalsprache des jüdischen Volks festlegen wollten, setzten sich andere für eine Gleichberechtigung des Jiddischen mit dem Hebräischen ein. Für eine dritte Gruppe stand die soziale Frage im Vordergrund. Ihnen war die Idee einer einzigen Sprache für alle Klassen prinzipiell suspekt. Man hielt schließlich in Czernowitz die Formulierung fest, dass das Jiddische eine der Nationalsprachen des jüdischen Volkes sei. Entschieden war die Frage damit allerdings noch lange nicht. 110 Jahre später wird jetzt an der Universität Augsburg das Projekt „Die Nationalsprache der Juden oder eine jüdische Sprache? Die Fragen der Czernowitzer Sprachkonferenz in ihrem zeitgeschichtlichen und räumlichen Kontext“ in Angriff genommen. Will man der multiethnischen und multilingualen Perspektivierung der Lebenswelten jüdischer Gemeinschaften in der Habsburger Monarchie, in der die Debatte vor allem geführt wurde, gerecht werden, ist eine internationale und interdisziplinäre Zusammenarbeit unverzichtbar. „Wir kooperierten deshalb mit den Germanistischen Partnerinstituten der Nationalen Yuriy-Fedkowytsch-Universität Czernowitz und der Westböhmischen Universität in Pilsen“, erläutert die Germanistin und Literaturwissenschaftlerin Prof. Dr. Bettina Bannasch, die gemeinsam mit ihrem Kollegen Prof. Dr. Alfred Wildfeuer (Variationslinguistik und Deutsch als Fremd-/Zweitsprache) das Projekt von der Universität Augsburg aus leitet. „Zusätzlich zu diesen Kooperationen“, so Bannasch weiter, „erlauben es uns die Assoziierungen mit der Abteilung für Jüdische Geschichte und Kultur an der LMU München und mit unserer Augsburger Kollegin Prof. Dr. Maren Röger, einer Spezialistin für die Wechselbeziehungen zwischen Deutschland und dem östlichen Europa, Diskurse um Sprache und Nation in der Habsburger Monarchie, wie sie ansonsten häufig getrennt geführt werden, zusammenzubringen." „Wir wollen“, so Wildfeuer, „mit diesem Projekt auch einen Beitrag leisten zu der in jüngster Zeit wieder aktuellen Frage nach Rahmenbedingungen bei der Konstituierung nationaler Identitäten und nach Möglichkeiten religiöser und sprachlicher Minderheiten, integrative oder distinktive Gruppenidentitäten zu bilden.“ Der Projektplan sieht drei Workshops zu unterschiedlichen Aspekten der Debatte in und nach Czernowitz sowie eine Abschlusskonferenz vor. Neben den Projektpartnern aus Augsburg, Pilsen und Czernowitz werden auch Expertinnen und Experten aus anderen deutschen, tschechischen und ukrainischen sowie polnischen und nordamerikanischen Universitäten einbezogen. Prof. Dr. Bettina Bannasch
Internationale und interdisziplinäre Zusammenarbeit
Sprache und Nation
Rahmenbedingungen bei der Konstituierung nationaler Identitäten
_____________________________________Tagungstermine
Workshop I: Kulturnationen im Vielvölkerstaat? Zur Bedeutung des deutschen Idealismus für die Nationalbewegungen in Österreich-Ungarn
Workshop II: Vos helft ir nisht boyen dem templ fun frayhayt un mentshlekhn glik?1 Zum spezifischen Beitrag von Autorinnen, Politikerinnen und Philosophinnen zur Diskussion um Sprache und Nation in Mittel- und Osteuropa
Workshop III: Die Czernowitzer Sprachkonferenz. Ihre Rezeption in Feuilleton und Literatur, in pädagogischen und didaktischen Schriften, in Lehrbüchern und in (Debatten über) Kinder- und Jugendliteratur
Abschlusstagung: Zukunft der Sprache - Zukunft der Nation? Debatten um jüdische Sprache und Literatur im Kontext von Mehrsprachigkeit und Nationbuilding
_____________________________________Kontakt:
Telefon: 0821/598-2778
bettina.bannasch@philhist.uni-augsburg.de