Detektivarbeit an alten Handschriften

Wer im 15. Jahrhundert ein Buch binden wollte, war oft auf Recycling-Material angewiesen: Man zerschnitt ältere Manuskripte, um mit deren Pergament den Falz des neuen Buchs zu verstärken. Diese Pergamentstreifen haben es aus heutiger Sicht in sich: Sie stammen aus Manuskripten, die zum Zeitpunkt dieser Verarbeitung teils bereits einige Hundert Jahre alt waren. Wie in einem Versteck wurden sie in der Bindung des neuen Buchs oft über weitere Jahrhunderte unentdeckt mitüberliefert.

Die Pergamentstreifen der Universitätsbibliothek Klagenfurt stammen aus dem 6. Jahrhundert. aau/bem


Lange verborgen blieben auch die dreizehn Pergamentstreifen, die der Augsburger Theologe Matthias Simperl gemeinsam mit dem Straßburger Historiker Eckhard Wirbelauer untersucht hat. Entdeckt wurden die Pergamentstreifen, die heute in der Universitätsbibliothek Klagenfurt liegen, bereits in den 1920er-Jahren.

Schon damals war klar: Die Streifen stammen aus einem sogenannten Palimpsest. Das heißt, das Manuskript, das im 10. Jahrhundert verfasst und im 15. Jahrhundert zerschnitten wurde, hatte zu diesem Zeitpunkt bereits einen Recyclingschritt hinter sich. Denn der Text wurde nicht auf frisches Pergament geschrieben, sondern auf ein beschriftetes Pergament, das abgewaschen wurde, um Platz für den neuen Text zu schaffen. In den 1920er-Jahren gelang es jedoch nur in Ansätzen, die alte, abgewaschene Schrift zu entziffern.

Entziffert mit modernster Technik

Konservatorin Christa Herzog, der Augsburger Theologe Matthias Simperl und der Straßburger Historiker Eckhard Wirbelauer analysieren die Pergamentstreifen aus dem 6. Jahrhundert. Susanne Schmidt

Das hat sich nun geändert. Mit modernsten Mitteln haben Simperl und Wirbelauer die Pergamentstreifen genauer untersucht: Unter anderem mit UV- und Multispektral-Aufnahmen ist es ihnen gelungen, die Texte weitestgehend zu entziffern. Dabei haben sie einen neuen, bisher unbekannten Text entdeckt.

Die Forscher konnten alle Texte auf den Pergamentstreifen identifizieren: Das Manuskript aus dem 10. Jahrhundert enthält Bibelkommentare des Kirchenvaters Hieronymus zum Alten Testament und ein Fragment des benediktinischen Gelehrten Smaragd von Saint-Mihiel. Bei den Texten aus dem 6. Jahrhundert handelt sich um zwei ursprünglich nicht zusammenhängende Texte: eine sehr frühe Fassung der Legende des Papstes Silvester (5 Streifen) und – das ist eine kleine Sensation – einen bisher noch gänzlich unbekannten Kommentar zum Matthäus-Evangelium (8 Streifen).

Bisher unbekanntes Manuskript

„Bisher wusste man nicht, dass es diesen Kommentar überhaupt gibt. Offenbar wurde er von einem Autor verfasst, den wir nicht kennen“, sagt Simperl, der als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Augsburg arbeitet und sich schon länger mit alten Handschriften beschäftigt.

„Wirkmächtige Bibelkommentare bekannter Gelehrter wie Augustinus oder Ambrosius wurden vielfach kopiert und sind heute teils in dreistelliger Zahl überliefert. Der Kommentar, den wir entdeckt haben, war aber offenbar nicht weit verbreitet.“ Diese Entdeckung ist historisch bedeutsam. Denn sie zeigt: Neben den bekannten Kommentaren gab es auch solche, die irgendwann nicht mehr abgeschrieben wurden.

„Das Besondere an diesem Kommentar ist, dass er ein sehr eigentümliches Vokabular verwendet“, erklärt Simperl. „Mich fasziniert, wie weit wir seinen Inhalt rekonstruieren konnten – ausgehend von einem sehr bruchstückhaft erhaltenen Manuskript.“, sagt er. Das ging nur im Team, betont Simperl: „Wir haben uns immer wieder gegenseitig überprüft und korrigiert.“

Ansporn für weitere Suche

Doch wer hat den Bibelkommentar aus dem 6. Jahrhundert verfasst? Die Antwort könnte in weiteren Fragmenten aus dem bisher verborgenen Manuskript liegen. Wo diese zu finden sind? „Ich habe eine starke Vermutung“, sagt Simperl. „In Manuskripten, die von Vinzenz Sittich geschrieben wurden – dem Hersteller des Buchs aus dem 15. Jahrhundert, in dessen Bindung die Pergamentstreifen gefunden wurden. Wahrscheinlich hat er die übrigen Pergamentstreifen, die beim Zerschneiden des Buchs aus dem 10. Jahrhundert entstanden sind, in der Bindung weiterer Bücher verarbeitet.“

Simperl hofft: „Vielleicht sind unsere Ergebnisse ja eine Motivation für Bibliotheken, die Handschriften von Vinzenz Sittich besitzen, diese daraufhin durchzugehen.“

 

cg

Virtuelle Ausstellung

Zu den Pergamentstreifen zeigt die Universitätsbibliothek Klagenfurt eine Online-Ausstellung, die von der Konservatorin Christa Herzog in Zusammenarbeit mit den beiden Wissenschaftlern konzipiert wurde: www.aau.at/ub/kostbarkeiten

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