Prof. Dr. Martin Kment, LL.M. (Universität Augsburg)

 

Mit ihrer Berliner Erklärung „Untere Städte und Regionen: Was sich ändern muss – wie wir uns ändern müssen“ trifft die Deutsche Akademie für Städtebau und Landesplanung e.V. (DASL) den Puls der Zeit. Sie benennt eindrücklich die aktuellen Herausforderungen, die sich sowohl Städten und Regionen als auch den Gesellschaften im In- wie im Ausland insgesamt stellen: Die Überschreitung der planetaren Grenzen, Ausbeutung und Zerstörung unseres Planeten, Klimaveränderung, Minderung der Biodiversität, Migrationsströme, soziale Schieflagen bis hin zur Destabilisierung der Demokratie und damit unserer politischen Ordnung selbst. Derartig gewaltige Krisen können nur im Verbund vieler Akteure sinnhaft in Angriff genommen werden, weshalb die DASL – ganz zu Recht – den Zusammenschluss einer Vielzahl von wissenschaftlichen und praktischen Disziplinen als Reaktion fordert und die Dringlichkeit in den Kontext der Städte und Regionen stellt, weil das Erfordernis gemeinsamer Anstrengungen hier besonders plastisch und zugleich drängend ist. Denn in Stadt und Region wird schon lange ein Umdenken beschworen und leider mit bescheidenem Erfolg eine Verkehrswende, Energiewende, Bodenwende sowie Bau- und Agrarwende gefordert. Doch was ist konkret zu tun, damit die Kehrtwende endlich gelingt? Darauf will die DASL mit ihrer Stellungnahme Antworten liefern, zumindest konkrete Denkanstöße.

 

Dass eine Neuorientierung nicht auf alten Standpunkten gelingen kann, weiß auch die Berliner Erklärung und verlangt deshalb den Paradigmenwechsel. An erster Stelle nimmt sie die Zivilgesellschaft – also uns alle – in die Pflicht. Diese „muss sich öffnen und die Transformation zu ihrer eigenen Angelegenheit machen.“ Dem will man schnell zustimmen; aber in welche Richtung sollen wir uns transformieren? Wie organisiert sich die Zivilgesellschaft? Wer setzt den Kurs zum Ziel? Als Staatsrechtler hat man auf diese Fragen schnell eine Antwort parat: Dafür wurde die im Grundgesetz verankerte Demokratie geboren, die durch repräsentative Vertreter im Streitgespräch die Marschroute bestimmt. Eine Einbindung der politischen Ebene in die Überlegungen zum Paradigmenwechsel ist daher sicherlich zentral. Dies gilt letztlich auch für die Forderung nach einem systematischen Denken und Handeln, die alle Repräsentanten der Planung an einen Tisch bringen will, um die „bisherigen sektoralen Optimierungslogiken“ zu überwinden. Dieser Appell der DASL kann nur der erste Schritt sein, denn Sachprobleme bedürfen am Ende eines jeden Prozesses einer Lösung und angesprochene Verteilungsfragen müssen insbesondere politisch verhandelt werden.

 

Auf der Suche nach neuen Lösungskonzepten hat die Berliner Erklärung einiges zu bieten. Sie liefert konkrete Vorschläge, „Stellschrauben und Weichen“, was zu tun ist: Kostenwahrheit durchsetzen, jedem Bestand Vorrang einräumen, neue Technologien an die Nachhaltigkeitsziele binden, eine Bodenwende umsetzen, Teilhabe und Beteiligung in der Planung neu regeln, institutionelle Strukturen verändern und den Rechtsrahmen reformieren, sozialen Ausgleich sichern und Gemeinwohl stärken sowie die Leitlinien der Planung und Gestaltung neu justieren. Man wird als Leser jedem Anliegen mehr oder weniger zustimmen wollen. Dies wird, wie die Berliner Erklärung zu ihrem Ende selbst offenlegt, daran liegen, wie sehr man im Widerstreit der Interessen Partei ergreifen will. Denn die eine Lösung für das insgesamt überwältigend große Problemgeflecht gibt es (jedenfalls noch) nicht. Wir befinden uns immer noch am Anfang eines mächtigen Umwandlungsprozesses. Dort zeigen sich viele (zum Teil unüberwindbar scheinende) Widersprüche, die zu bewältigen sind: So soll mit Blick auf die Dringlichkeit der Dinge alles ganz schnell gehen und doch unter Hinweis auf die Tragweite der Probleme alles zugleich gut und gründlich bedacht sein. Im Dschungel der Probleme bedarf es offensichtlich einer klaren Führung und strikten Marschroute, um zum Ziel zu gelangen, während zeitgleich die Komplexität der Probleme Flexibilität und Ergebnisoffenheit erfordert. Beharrungs- und Veränderungskräfte ziehen gleichermaßen; gesellschaftliche Reibung ist damit vorprogrammiert.

 

Aus diesem Grund wird eine Forderung nach Kostenwahrheit beim Bauen Zuspruch bekommen, um die realen Belastungen unseres ungehinderten Ressourcenverbrauchs offenzulegen und Fehlanreizen zukünftig zu begegnen. Aktivitäten zur Abmilderung des Defizits an Wohnraum wird ein Kostenschub in Deutschland gleichwohl nicht beflügeln. Ambivalenz löst auch eine Bodenwende aus: Der ungebremste Zugriff des Großkapitals auf die Immobilienmärkte hat hierzulande großen Schaden angerichtet. Dennoch darf daraus nicht der Schluss gezogen werden, Eigentümer – gerade in Großstädten – beliebig belasten zu können. So liefert etwa der zum Teil großflächige Gebrauch von sozialen Erhaltungssatzungen ein plastisches Beispiel, wie eine Lastenverteilung zum Nachteil des Eigentums letztlich die Bausubstanz in den Großstädten schädigt und die Not der Wohnungssuche kontraproduktiv steigert. Hinzu kommt, dass das Baurecht auch einen Auftrag hat, an die deutsche Mittelschicht zu denken, die – auch bedingt durch soziale Instrumente des besonderen Städtebaurechts – kaum noch in der Lage ist, in Großstädten Wohneigentum zu erwerben.

 

Schon ewig ein Zankapfel ist auch die Art und Weise der Öffentlichkeitsbeteiligung. Als Baustein des Erkenntnisgewinns ist sie sicherlich elementar und besitzt letztlich auch – in gewissem Umfang – eine gesellschaftliche Befriedungsfunktion. Legitimierend wirkt sie aber weiterhin nicht, egal wie oft dieses Missverständnis auch noch vorgetragen wird. Legitimation vermag in der Bundesrepublik Deutschland nur ein durch Wahlen mit Autorität versehener Gesetzgeber zu verleihen und nicht ein – mitunter zufällig zusammengesetzter – zur Beteiligung bereiter Ausschnitt der Öffentlichkeit. Dies soll nicht dem Experiment neuer Beteiligungsformen den Boden entziehen; diese Überlegungen sind sehr zu begrüßen. Vorsicht ist allerdings geboten, wenn man eine „repräsentative Auswahl“ der Beteiligten anstrebt. Wer ist schon repräsentativ? Auch der Desinteressierte? Wer trifft die Auswahl und definiert die repräsentative Gruppe? Und, wieviel Zeit will man sich für die Suche der auserwählten Personen nehmen? (Scheinbar) konträr zur Stärkung der Öffentlichkeitsbeteiligung steht da der Wunsch zur Vereinfachung und Beschleunigung des Verfahrens, den auch die DASL hegt. Das Recht soll zudem „anwendungsfreundlicher“ weiterentwickelt werden: Klare verbindliche Vorgaben und ungeminderte Steuerungskraft, gerade auch auf übergeordneten Ebenen, sollen mit mehr Spielräumen für die nachfolgenden Entscheidungsträger, insbesondere die Kommunen, gepaart werden. Alte, verkrustete Rechtsstrukturen sollen auf diese Weise aufgebrochen werden und mehr „Experimente“ bzw. „Reallabore“ in den dann verbreiterten Gestaltungsbereichen entstehen. Das Recht der Innovation haben jedoch nicht nur Kommunen; gerade auf überregionalen Ebenen werden auch heute schon wichtige Impulse zum Wandel gesetzt, dem sich einzelne Kommunen bislang verweigern.

 

Zutreffend identifiziert die Berliner Erklärung des Weiteren eine bedrückende Regelungslawine, die das deutsche Umwelt- und Planungsrecht aktuell belastet und zu dessen Schwerfälligkeit beiträgt. Die Verantwortung und zugleich die Gestaltungskraft für wichtige Veränderungen besitzt der deutsche Gesetzgeber allerdings nur zum Teil. Gerade europäische Vorgaben, vor allem zum Schutz der Umwelt und zum Kampf gegen den Klimawandel, führen in der Praxis zu beträchtlichen Erschwernissen bei der Rechtsanwendung. Von deutscher Seite könnte man über eine Verschlankung des uns ans Herz gewachsenen Abwägungsgebots nachdenken; seine Erscheinung ist in der europäischen Rechtsfamilie ohnehin ein Unikat, das auf lange Sicht gerade mit Blick auf seine Detailverästelung kaum noch zu rechtfertigen ist.

 

Bei einer Rückführung des Rechts auf sein Kernanliegen dürfte es dann auch einfacher gelingen, bei Problemlösungen auf Nutzungsoffenheit zu achten, Mehrfachnutzungen zu ermöglichen und die Reversibilität und Befristung in administrative Entscheidungsprozesse einzuspeisen. Ob dabei tatsächlich am Ende das „Experiment als Routine“ herausspringt, wird einem Kenner der deutschen Verwaltungsstrukturen mindestens als ambitioniert erscheinen. Die Größe der aktuellen Herausforderungen erlaubt aber keine voreiligen Denkverbote. Nicht verhandelbar ist demgegenüber die Bindung an das Recht, die mit guten Gründen ein zentraler Baustein der deutschen Verfassung ist. Deshalb muss auch nicht die „Verrechtlichung“ der räumlichen Planung beklagt werden. Eine gute normative Struktur ist vielmehr Schlüsselelement und Wegbegleiter, um die großen Herausforderungen der Zeit letztlich zu meistern.   

 

 

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