Katalog- und Ausstellungsrealisation in Kooperation mit EIisabetta Bresciani, Kuratorin künstlerischer Nachlass Tilla von Gravenreuth
Tilla von Gravenreuth. Gezeichnete Lebenslinien
In einem Tandemprojekt erschlossen Studierende des Lehrstuhls für Kunstpädagogik, Regine Schurig und Ferdinand Babl, mit der Kuratorin Elisabetta Bresciani und der Dozentin Christiane Schmidt-Maiwald den zeichnerischen Nachlass von Tilla von Gravenreuth (1909-2000).
Die lebendig gesetzte Linie ist das charakteristische Merkmal dieses zeichnerischen Spätwerks von Tilla von Gravenreuth, die in den 1920er-Jahren in Stuttgart und in Berlin bei Oskar Schlemmer ihre künstlerische Ausbildung erfuhr und in den 1980er- und 90er-Jahren in Affing, in Bayerisch Schwaben, ein beachtliches Spätwerk schuf. So entstand ein Katalog zu einer Ausstellung, die ursprünglich im Juli 2020 hätte gezeigt werden sollen und nun Corona bedingt ein Jahr später, im Juli 2021, stattfinden wird. Das Kooperationsprojekt ermöglichte Studierenden in einmaliger Weise, die Prozessetappen einer Ausstellung: von der Konzeption, über die wissenschaftliche Recherche, das Führen von Interviews mit Zeitzeugen bis zur Gestaltung und Organisation von Katalog und Ausstellungsmaterialien, zu durchlaufen, aktiv zu partizipieren und so Berufspraxis zu erwerben.
Katalog
Tilla von Gravenreuth. Gezeichnete Lebenslinien
Hrsg. Elisabetta Bresciani, Christiane Schmidt-Maiwald
Wißner-Verlag, Augsburg, September 2020
60 Seiten, Farbabbildungen
Hardcover
Format 21,0 x 21,0 cm
1. Auflage
ISBN: 978-3-95786-253-2
Ausstellung:
Vernissage: Donnerstag, den 8. Juli 2021 mit Rahmenprogramm
Laufzeit 9. bis 23. Juli 2021
Praxisorientierte Projektarbeiten stellen ein Herzstück in der Ausbildung von späteren Vermittler*innen im Kulturbereich dar, weil sie den größtmöglichen Einblick in berufliche Praxis erlauben, Einblick in komplexe Kommunikationsprozesse und wissenschaftliche Sacharbeit geben. Die kunstwissenschaftliche Aufarbeitung eines künstlerischen Nachlasses ist dann noch einmal eine ganz besondere Herausforderung: Über das Sichten der originalen Kunstwerke stellt sich eine unvergleichliche Nähe zu den Schaffenden ein, verdichtet über die Aussagen von interviewten Vertrauten und Modellen; erste stilistische Zuordnungen, inhaltliche Interpretamente stehen im Raum, gefolgt vom Prozess des Bündelns, um Werkgruppen zu definieren, des Forschens, um Einflüsse und Leitbilder zu bestimmen. Und dann geht der Prozess in die ausstellungsdidaktische Arbeit über, in der Katalog- und Ausstellungsstruktur entstehen mit Blick auf die räumlichen Gegebenheiten, die Ausstellungsbesucher*innen und den Anspruch einer Künstlerin aus einer anderen Zeit gerecht zu werden. Nicht zuletzt sind unzählige Detailentscheidungen zu treffen: zu Schrifttypen, Einbandfarben, Rahmungen, Begleitexten und zur Organisation – wie Fragen der Versicherung, des Transports, der Hängung, des Vermittlungsprogramms.
Ein Blick in das Leben einer Künstlerin
Ganz in der Nähe von Augsburg entsteht in Affing den 1980- und 90er-Jahren in aller Stille ein beachtliches Spätwerk. Tilla von Gravenreuth greift als 76-Jährige noch einmal den Faden ihrer Jugend auf, in der sie Zeichenunterricht bei dem Bauhauslehrer Oskar Schlemmer in Berlin in den späten 1920er-Jahren genommen hatte. In großer Dichte liegt die gezeichnete Auseinandersetzung Tilla von Gravenreuths mit dem menschlichen Körper vor: Sie lässt Modell stehen, fängt schnell verschiedenste Posen ein. Das Konvolut an Zeichnungen umfasst unterschiedlichste Untergründe und Zeichenmitteln. In zweierlei Hinsicht sind diese Zeichnungen gerade für Studierende des Faches Kunstpädagogik lehrreich: technisch-stilistisch, weil die Zeichnungen noch ganz geprägt von der Aufbruchszeit der 1920-30er Jahre sind, aber auch die 1980er-Jahre und das Aufleben des Expressionismus spiegeln – aber auch als historische Erfahrung. Die Nachlassverwalterin und Kuratorin Elisabetta Bresciani erklärt: „Erst nach dem Tod des Ehemanns nimmt sie als Siebzigjährige das Zeichnen wieder auf, vor Ort im ländlichen Umfeld von Augsburg und damit abseits der pulsierenden Kunstzentren und abseits ihrer gesellschaftlichen Rolle als ‚Baronin‘. Unbeirrt knüpfte sie an die reformpädagogischen Ideale ihrer früheren Ausbildung an der Stuttgarter Akademie an und beschäftigte sich über Aktstudien mit der Rolle eines von gesellschaftlichen Zwängen befreiten Mensch-Seins.“
Ein Blick in den Katalog
Im Katalog Tilla von Gravenreuth. Gezeichnete Lebenslinienwerden die besonderen Umstände, in denen das Spätwerk in aller Stille entstand, vor dem reformpädagogischen Hintergrund der Künstlerin beleuchtet (E. Bresciani) ebenso wie die stilistischen Einflüsse nah an den einzelnen Werken untersucht (C. Schmidt-Maiwald). Die gebildeten Werkgruppen: Vom Finden der Körperlinie,Ein Körper wird Paar, wird Trias, In guter Beg(K)leidung, Auf-den-Raum-Bezogen-Sein,Von Außen nach Innensind von E. Schurig im Werkkatalog motivisch und stilistisch kommentiert. In einem kurzen Exkurs wird schließlich der ikonografische Bezug von F. Babl herausgearbeitet. Das grafische, ganz auf die markante Linienführung der Künstlerin ausgerichtete Layout entwickelte R. Schurig.
Ein Blick in die im Sommer 2021 geplante Ausstellung
Die ursprünglich bereits für das Sommersemester 2020 geplante Ausstellung wird nun erst vom 8. bis 23. Juli 2021 im Gebäude für Kunst und Musik der Universität gezeigt werden können. F. Babl, der für die Ausstellungsorganisation verantwortlich zeichnet, erklärt: „Die mit zarter und teilweise nur angedeuteter Linie gefertigten Zeichnungen von Frauen, die mal modisch, mal androgyn in den unterschiedlichsten Posen gezeigt werden, geben Anlass, nach der Rolle der Frau und Künstlerin, früher wie heute, und dem entsprechend nach unterschiedlichen Frauenbildern zu fragen. Es geht also zum einen um das Thematisieren und Hinterfragen von Geschlechterrollen. Zum anderen ist es sicherlich auch für Kunstschaffende von motivierender Bedeutung das Spätwerk eines Menschen sehen zu können, der nach jahrzehntelanger Latenzphase im hohen Alter zur Kunstproduktion zurückfindet und in nur wenigen Jahren ein doch sehr umfangreiches Werk schafft.“
Ein Blick in die didaktische Werkstatt
Im Rahmen der Vermittlung ist anlässlich der Vernissage eine Podiumsdiskussion geplant, bei der aus unterschiedlichen Perspektiven der zeichnerische Anlass noch einmal diskutiert werden wird. Angefragt sind der Leiter des H2 für Gegenwartskunst, Dr. Thomas Elsen, der Verleger des Wißner-Verlages, Michael Moratti, die Söhne und Leihgeber, Rochus Freiherr von Schauenburg und Marian Freiherr von Gravenreuth sowie die Sammlungskuratorin Elisabetta Bresciani; diese Gäste werden zusammen mit der Dozentin Dr. Schmidt-Maiwald sowie mit den Studierenden den Entstehungsprozess der Kooperation diskutieren; die Lehrstuhlinhaberin Frau Prof. Dr. Kirchner wird die Gesprächsrunde moderieren. Aber auch in der Ausstellung selbst sind bereits Vermittlungsmomente praktischer Natur mit angedacht, die u.a. in einem ausstellungsdidaktischen Seminar im WiSe 19-20 entwickelt und diskutiert worden waren. F. Babl erläutert das pädagogische Vermittlungskonzept: „Wie bereits ausgeführt, richtet sich die Ausstellung in besonderer Weise an Studierende des Faches Kunstpädagogik. So findet sich ein Tisch gleich am Eingang der Ausstellung, auf dem Zeichen- und Malutensilien zur Verfügung gestellt sind: zum Beispiel Filzstifte, Holzstifte und Aquarellfarben sowie ein bis zwei Gliederpuppen. Sie sollen dazu anregen, selbst mit den gleichen Mal- und Zeichenwerkzeugen tätig zu werden wie Tilla von Gravenreuth. So kann der Arbeitsprozess der Affinger Künstlerin praktisch nachvollzogen werden. […] In zwei zusätzlich zur Disposition stehenden Vitrinen (Eingangsbereich der Ausstellung und Ende) werden Modelle zur Ausstellungsarchitektur gezeigt, die im Rahmen eines begleitenden Seminars zur Ausstellungskonzeption entstanden sind. Sie sollen den Studierenden und Interessierten eine Vorstellung davon geben, welche alternativen Möglichkeiten der Ausstellungskonzeption diskutiert wurden und darüber hinaus zu eigenen Ideen anregen.“
„Eine mit den Brüchen der Moderne tief verwurzelte Künstlerin wie Tilla von Gravenreuth am Lehrstuhl für Kunstpädagogik der Universität Augsburg auszustellen, birgt die Chance Studierende darin zu bestärken, mutige, eigene Wege zu gehen um eine lebendige Persönlichkeit zu entfalten.“
Elisabetta Bresciani,
Kuratorin künstlerischer Nachlass Tilla von Gravenreuth, Affing bei Augsburg
"Als eine besondere Erfahrung empfand ich die gemeinsame kunsthistorische Aufarbeitung und Einordnung der Künstlerin und ihres Spätwerkes im Projektteam – sowie die Freiheit diese Erkenntnisse in mein persönliches Gestaltungskonzept zu überführen."
Regine Schurig, Studentin des Bachelorstudiengangs Kunstpädagogik
„Mir hat beim Projekt vor allem gefallen, beim gesamten Aufarbeitungsprozess der Künstlerin – von der ersten Sichtung der Werke über das Schreiben eines Katalogbeitrages bis letztlich hin zur kuratorischen Arbeit – dabeigewesen sein zu können.“
Ferdinand Babl, Student des Bachelorstudiengangs Kunstpädagogik
Die Begegnung mit der eigenwilligen Formensprache einer Künstlerin, die in den 1980er-Jahren anknüpft an ihre Lehrjahre der 1920er-Jahre, eröffnet unerwartete Perspektiven für einen lebendigen Kunstdiskurs, in dem Studierende und Dozierende am Lehrstuhl für Kunstpädagogik stetig stehen.
Christiane Schmidt-Maiwald, Dozentin am Lehrstuhl für Kunstpädagogik
Abbildungen:
Cover Katalog, Wißner-Verlag
Abbildungen mit freundlicher Genehmigung der Söhne Rochus Freiherr von Schauenburg und Marian Freiherr von Gravenreuth, Fotos: Andreas Brücklmair Augsburg