Tag der Europäischen Kulturgeschichte 2024

Soziale und private Vorsorge im Europa der Vormoderne und des 19. Jahrhunderts - im Schnittfeld von Kultur- und Rechtsgeschicht

Am 17.06.2024 fand der achte Tag der Europäischen Kulturgeschichte (EKG) in den Räumlichkeiten der Juristischen Fakultät der Universität Augsburg statt und war dem Leitthema der sozialen und privaten Vorsorge im Europa der Vormoderne und des 19. Jahrhunderts gewidmet. Diese vielschichtige Themenstellung wurde in dem vom Institut für Europäische Kulturgeschichte veranstalteten interdisziplinären Symposium beleuchtet.

Den Auftakt machte Ulrich Niggemann im Namen des Direktoriums des Instituts für Europäische Kulturgeschichte. Dieser führte in den Themenbereich ein. So ist die soziale und private Vorsorge als weltliche Vorsorge auch und gerade vor der Kontrastfläche der instinktiv für lange Zeit als prävalent angenommenen göttlichen Fürsorge zu betrachten. Die Tagung sollte ferner auch der Begriffsschärfung dienen sowie die diversen und sehr heterogenen Instrumente der Vorsorge kontextualisieren. Dabei sollte auch aufgezeigt werden, was das Instrumentarium aus privaten, kommunalen, staatlichen, kirchlichen und weiteren Vorsorgeoptionen eint: nämlich ein zumindest rudimentär ausgeprägtes Niveau an Formalisierung bzw. Regelbasierung. All dies ist nicht nur für ein wissenschaftliches Erkenntnisinteresse von Relevanz, sondern kann ebenfalls im Hinblick auf gegenwärtige sozialpolitische Diskussionen fruchtbar und nutzbar sein.

Der erste Referent, in den chronologisch nach Vortragssujets geordneten Vorträgen, war Andreas Hartmann, der unter der Leitfrage nach einer potenziellen Bedürftigkeitsprüfung Überlegungen zu Maßnahmen der sozialen Grundsicherung in der Antike anstellte. Dazu wurden zwei Fallbeispiele erörtert: Zum einen die Kriegerwaisenversorgung im antiken Inselstaat Thasos. Dahingehend war lange Zeit davon ausgegangen worden, dass die Entschädigung für den Tod des gefallenen Vaters im Krieg vorbehaltlos ausbezahlt wurde. Neugefundene Fragmente kontrastieren diese These jedoch. So sind in diesen neuen Fragmenten die Bestimmungen für ein formelles Antragsverfahren normiert. Darüber hinaus wurde die Kriegerwaisenversorgung lediglich dann ausgezahlt, wenn keine ausreichenden Vermögensverhältnisse bzw. eigene Einkommenspotenziale gegeben waren. Daher ist davon auszugehen, dass die Kriegerwaisenversorgung lediglich als eine subsidiäre Sicherung qualifizierte. Aufgrund des vorausgehenden komplexen Antragsverfahrens, einschließlich der Offenlegung der Vermögens- und Einkommensverhältnisse, war mit der Inanspruchnahme der Kriegerwaisenversorgung wohl eine gewisse soziale Stigmatisierung verbunden. Da die ausgezahlten Beträge ferner relativ gering waren, dürfte es sich lediglich um eine soziale Grundsicherung gehandelt haben.

Das zweite Fallbeispiel war die Getreideverteilung in Rom. Teilnahmeberechtigt waren dabei grundsätzlich Bürger und Einwohner Roms. Soziale Bedürftigkeit war dabei keine Partizipationsvoraussetzung an der Verteilung. Vielmehr wurde der Teilnehmerkreis genealogisch abgegrenzt; so waren beispielsweise Gymnasiasten oder Kuratoren unter den Berechtigten. Es erscheint zunächst verwunderlich, dass ein vermeintlich privilegierter Personenkreis hier für eine Sozialleistung qualifizierte. Allerdings war schon in der Antike – vergleichbar mit dem heutigen verarmten Erbadel – eine gesellschaftlich herausgehobene Stellung nicht zwingend äquivalent mit ökonomischer Potenz. Abschließend kann konstatiert werden, dass Bedürftigkeitsprüfungen in der Antike durchaus bekannt waren und in verschiedensten Formen praktiziert wurden.

Mit einem erheblichen zeitlichen Sprung verließ das Symposium thematisch die Antike und wandte sich dem ausgehenden Mittelalter zu. Dafür übernahm Thomas Krüger das Wort und stellte basierend auf Beispielen aus dem Augsburger Domstiftsarchiv diverse Vorsorgeverträge mit der spätmittelalterlichen Kirche vor. Das Augsburger Domstiftsarchiv weist dahingehend eine Besonderheit auf, da es sich um einen provinzenreinen Bestand handelt. In einer ersten Phase der Untersuchung wurden die Aktenbestände von 1099 bis 1424 ausgewertet. Dabei sind neben Verträgen, die primär geistliche Interessen adressieren (wie z. B. Gebietsverbrüderungsverträge), gerade auch Verträge prävalent, die auf wirtschaftliche Aspekte abzielen. Dabei fällt die Gattung der sogenannten Leibgedingsverträge besonders auf, welche innerhalb des ausgewerteten Archivkorpuses, nach Kaufverträgen, die zweitgrößte Gruppe darstellt.

Mittels dieser Verträge wurde dem Leibgedingsnehmer eine Besitzung, im Regelfall ein Haus, auf Lebzeiten gesichert. Als Gegenleistung wurde ein Pachtzins an das Domkapitel bzw. an einen Domherrn gezahlt. Die genauen vertraglichen Leistungspflichten und die einzelnen Vertragsausgestaltungen sind jedoch innerhalb der 1.088 ausgewerteten Leibgedingsverträge durchaus heterogen. So lauteten einige Verträge auf mehrere Leiber; in dieser Konstellation endet der Leibgedingsvertrag erst mit dem Tod des letzten Überlebenden. Der Regelfall der Nutzung der leibgedingsten Liegenschaft war die Selbstnutzung. Jedoch lässt sich aus den Verträgen ableiten, dass auch Vermietungen zulässig waren. Ebenfalls konnten Leibgedingse verkauft werden, erloschen jedoch konsequenterweise trotzdem mit dem Tod des ursprünglichen Leibgedingsnehmers. Insgesamt handelte es sich bei den aus Leibgedingsvertrag erworbenen Rechten um relativ weitgehende Rechte, die sogar einen Umbau der Liegenschaft zulassen – nach heutiger Terminologie drängen sich dahingehend Parallelen zum Nießbrauch auf. Grundsätzlich weist der Leibgedingsvertrag aber auch Charakteristika von modernen Erbpacht- und Leibrentenverträgen auf. Ein Leibgedings mit einer Leibrente gleichzusetzen, wie es die bisherige Forschung häufig annimmt, greift jedenfalls zu kurz und wäre aufgrund der Vielschichtigkeit und Komplexität von Leibgedingsvertrag zu undifferenziert.

Den Konnex der Leibgedingsverträge zum Leitthema der Vorsorge stellt das Faktum dar, dass oftmals der Pachtzins unter dem entsprechenden Marktwert lag, gegebenenfalls sogar erlassen war. So konnte sich eine Familie, womöglich sogar intergenerationell, preisgünstig weitgehende Rechte an einer Immobilie sichern und dahingehend privat vorsorgen. Der klerikale Leibgedingsgeber hatte ein Interesse daran, dass seine Güter langfristig bestellt und gepflegt wurden und so der inhärente Wert erhalten blieb. Ab Mitte des 14. Jahrhunderts wurden Leibgedingsverträge weniger gebräuchlich und im Instrumentarium der diversen Vertragsgestaltungen zunehmend substituiert. Zusammenfassend besteht hinsichtlich der Leibgedingsverträge noch enormer Forschungsbedarf, da gerade deren Spezifika in der bestehenden Forschung nur unkonturiert gewürdigt werden.

Im Zuge eines weiteren ungefähr 300-jährigen thematischen Zeitsprungs referierte Lothar Schilling über die Wechselwirkungen von Versicherung und „gute Policey“ im Zug der Diskussion um die „Viehassecuration“ im Zeitalter der Aufklärung. Ausgangspunkt war hier die Feststellung, dass auch in diesem Metier der Forschungsstand ausbaubedürftig ist. So herrscht das sehr eindimensionale Narrativ vor, dass Friedrich II. von Preußen in Reaktion auf eine katastrophale Seuchenwelle in Schlesien im Jahr 1765 eine Pflichtversicherung eingeführt hat. Dieser Befund ist zwar sicher richtig, nur bedarf er der Kontextualisierung, da die Einführung nicht im luftleeren Raum stattfand, sondern sich im Vorfeld verschiedene Entwicklungslinien ereigneten, welche miteinander wechselwirkten und so schließlich die Einführung der Pflichtversicherung ideengeschichtlich vorbereiteten.

In einer ersten Entwicklungslinie bildeten sich im 17. Jahrhundert Verordnungen heraus, die normierten, wie im Falle einer auftretenden Seuche zu verfahren sei. Diese – nach heutiger Terminologie sicherheitsrechtlichen – Verordnungen enthielten einen Kanon an Maßnahmen, wie Absonderungen, Mobilitätsreduktionen oder Keulungen. Das gemeinsame Ziel dieser Maßnahmen war die Ausbreitung der Krankheit zu verhindern. Aufgrund des noch rudimentären epidemiologischen Wissens und der Tatsache, dass auch die Melde- und Befolgungsbereitschaft nicht ausnahmslos gegeben war – man wollte aus ökonomischen Gründen die Keulung der eigenen Viehbestände nach Möglichkeit verhindern – waren die Erfolge dieser Verordnungen begrenzt.

In einer weiteren Entwicklungslinie bildeten sich privatwirtschaftlich organisierte Versicherungsvereine aus. Diese hatten zwar eine dezidiert regionale Struktur, und daher hoch korrelierte Risiken, wurden aber von dem agromanischen Zeitgeist sehr propagiert, denn die Vorteile waren evident: So wurden dadurch Betriebsrisiken minimiert, bäuerliche Existenzen gesichert und der schicksalsgläubige Fatalismus überwunden. Des Weiteren sind auch Synergien mit den Seuchenverordnungen gegeben, denn deren Befolgungsbereitschaft wurde dadurch substanziell erhöht, dass Keulungen des Bestandes ihren Schrecken verloren, da diese durch die Versicherung kompensiert wurden. Es kam somit zu einer Verschränkung der privaten Seuchenabsicherung und der hoheitlichen Seuchenprävention. Diese ging sogar so weit, dass der Versicherungsanspruch verloren ging, wenn die Vieherkrankungen nicht ordnungsgemäß gemeldet wurden. So wurde im Ergebnis mit privatrechtlichen Instrumenten, die Befolgung von sicherheitsrechtlichen Maßnahmen incentiviert.

Trotz aller praktischen und versicherungsmathematischen Probleme waren diese Versicherungsvereine bemerkenswert resilient; allein in Schleswig-Holstein existierten in den 1760er Jahren 751 dieser Vereine. In zeitgenössischen Fachkreisen entspann sich daher eine virulente Diskussion, ob die Viehversicherung aufgrund von substanziellen versicherungstheoretischen Vorteilen nicht als eine obligatorische Versicherung ausgestaltet werden sollte. Als Resultat dieser nicht zielorientierten Entwicklungsprozesse ist die Viehversicherung Friedrichs II. zu werten. Hinsichtlich der vorgelagerten und peripheren Entwicklungslinien der Viehversicherung besteht also noch erheblicher Forschungsbedarf.

Der nächste Vortrag von Magnus Ressel zur Genese und dem Fall des Verbotsdogmas von Lebensversicherungen fokussierte ebenfalls auf die Frühe Neuzeit. Darin wurde dargestellt, wie Lebensversicherungen gerade im Mittelmeerraum – auch in der Erscheinungsform von Wetten auf das Leben Dritter – vor der Reformation rege praktiziert wurden. Ab 1540 wurde jedoch ein Verbot von Lebensversicherungen virulent. Die dahingehende Skandalisierung entsprang der konfessionellen Spaltung, wurde aber zum Teil auch mit einem Rekurs auf antike Rechtssätze gerechtfertigt. Die daraus resultierende Stigmatisierung der Lebensversicherung wirkte jedoch überkonfessionell und umfasste sowohl katholische als auch calvinistische Territorien. Durch die sich ab dem 17. Jahrhundert etablierenden Barbaresken- bzw. Freikaufversicherungen erodierte das Verbot jedoch in der Folge immer mehr. Spätestens 1790 wurde auch das Pro-Forma-Verbot – wobei es auch während des Bestehens durchaus viele Umgehungen gab – endgültig aufgehoben. Damit handelte es sich im Wesentlichen um eine lediglich 250-jährige Periode, in der es eine solche formelle Ächtung von Lebensversicherungen gab.

Der darauffolgende Vortrag blieb ebenfalls in dieser Zeit verhaftet; Phillip Hellwege referierte über die Witwenversorgung in der Frühen Neuzeit, insbesondere durch Witwenkassen. Ausgangspunkt war dabei, dass es hinsichtlich der Witwenversorgung im Allgemeinen eine Vielzahl von bewährten Versorgungsstrategien wie die Versorgung durch familiäre Strukturen, durch Mitgift, durch eigene Erwerbsarbeit (vor allem bei Fortführung eines Handwerksbetriebs) und durch Wiederheirat gab. Bei bestimmten Berufsgruppen wie Professoren, Pastoren oder Staatsbediensteten versagten jedoch die eben genannten Versorgungsstrategien. Um dieses Spannungsfeld zu adressieren, bildeten sich erste Witwenkassen heraus, wie die Witwenkasse an der Universität Rostock von 1707. Diese entstanden jedoch nicht aus dem Nichts, sondern wurden vermutlich in Anlehnung an die Witwenversorgung durch die Knappschaften der Bergarbeiter entwickelt. Bei einer eingehenden Beschäftigung mit den Witwenkassen fällt dabei auf, wie disparat der Forschungsstand zwischen der englischsprachigen und der deutschsprachigen Forschung ist. Dies zeigt sich schon daran, dass die englischsprachige Forschung davon ausgeht, die deutschen Witwenkassen seien im 18. Jahrhundert entstanden, die deutschsprachige jedoch vom 16. Jahrhundert ausgeht.

Koppelt man nun das Forschungssujet der Witwenkassen auf das Leitthema des Tags der Europäischen Kulturgeschichte, die soziale und private Vorsorge, zurück, lässt sich feststellen, dass sich Witwenkassen an der Schnittstelle zwischen sozialer und privater Vorsorge bewegen. Die Witwenkassen weisen daher eine gewisse Bivalenz auf, da sie Aspekte sowohl der privaten als auch der sozialen Vorsorge verbinden. Je nach einzelner Witwenkasse, die sich ebenfalls in ihren Entwicklungsstufen unterscheiden, ist mehr die soziale oder mehr die private Eigenart prädominant. Dies hatte der Referent in einer eigens dafür entwickelten Phänomenologie eindrucksvoll visualisiert.

Insgesamt ist es vor dem 19. Jahrhundert kaum möglich, Sozial- und Privatversicherung zu unterscheiden, da diese weitgehend verschmolzen waren. Diese Dualität aus Sozial- und Privatversicherung liegt jedoch der modernen Forschung oftmals zugrunde. Damit ist die Genese der Vorsorge auch eine Geschichte des langsamen Trennens von Sozial- und Privatversicherung. Genau diese Geschichte ist aber noch kaum beforscht und bedarf einer umfassenderen Aufarbeitung.

Den abschließenden Vortrag steuerte Jana Osterkamp zu dem Thema „Vorsorge oder Fürsorge? Kontroversen um soziale Sicherungssysteme in der Habsburgermonarchie“ bei. Darin wurde zunächst die zunehmende sozialstaatliche Prägung der Habsburgermonarchie skizziert. So tritt das Soziale im Verlauf des 19. Jahrhunderts graduell mehr aus der Sphäre des Oikos heraus und gewinnt auch in der Polis mehr Bedeutung. Als Katalysationspunkt lässt sich der Gründerkrach von 1873 identifizieren. Von diesem war Österreich-Ungarn im Besonderen betroffen und es wurde in der Folge ein verstärkter Fokus auf die Sozialpolitik gelegt. Das theoretisch-ideologische Fundament dafür lieferte Lorenz von Stein mit seiner Lehre von der sozialen Monarchie.

Es entwickelte sich ein ausdifferenziertes Sozialsystem, in dem jeder staatlichen Gliederungsebene – Reich, Ländern und Gemeinden – unterschiedliche Aufgaben zufielen. Dabei ist jedoch zu konstatieren, dass Sozialeinrichtungen im Königreich Ungarn oft erst mit veritabler Verspätung im Vergleich zum österreichischen Stammland eingeführt wurden. In diesem ausdifferenzierten Sozialsystem lässt sich jedoch die Singularität eines ausgeprägten Petitionswesens an den Kaiser feststellen. Dieses entsprach ganz seinem Selbstbild als sozialem Monarchen und nahm ungefähr 90 Prozent seiner Arbeitszeit ein. Neu war daran, dass dabei nicht mehr das Leitbild der Billigkeit bei Petitionen im Vordergrund stand, sondern es mehr um einen formalisierten (Verwaltungs-)prozess handelte. Der Monarch verkörperte die unparteiische Spitze des Staates und war gleichzeitig Symbol für sozialstaatliche Fürsorge.

Mit diesem Vortrag endete der Tag der Europäischen Kulturgeschichte 2024. In den verschiedenen Vorträgen wurde aus ganz unterschiedlichen Perspektiven die vermeintliche oder tatsächliche Dualität der sozialen und privaten Vorsorge im Europa der Vormoderne und des 19. Jahrhunderts verhandelt. Dabei lässt sich festhalten, wie vielschichtig und komplex dieses Themenfeld ist, und wie konträr zu diesem Befund, einschichtig der Forschungsstand oft ist. Hier lassen sich daher noch ertragreiche Forschungspotenziale heben.

 

Bericht: Georg Obermayer

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