Das Telegraphennetz in Mitteleuropa 1855
Der Aufbau von Telekommunikationsnetzen auf Grundlage der elektrisch-magnetischen Telegraphie begann um die Mitte des 19. Jahrhunderts zunächst in Europa (zumeist in staatlicher Regie) und in den USA (in privatwirtschaftlichem Rahmen). Die Technik war damals bereits so weit ausgereift, dass mit Drahtleitungen " vorzugsweise entlang von neu entstehenden Eisenbahnlinien" Fernstrecken (z.B. Prag-Wien oder Köln-Berlin) errichtet werden konnten, die einen effektiven Telegrammbetrieb ermöglichten. Dabei setzte sich die leistungsstarke Morsetelegraphie, die aus den USA nach Europa gekommen war, unter den konkurrierenden Apparatetypen allgemein durch. Auch kam es bereits mit dem Aufbau der ersten Fernstrecken zur internationalen Zusammenarbeit von Telegraphenverwaltungen.
Mit oberirdisch geführten Drahtleitungen konnte man Telegraphenkabel vergleichsweise kostengünstig und schnell auch auf großen Distanzen realisieren. In Europa wurden zunächst die wichtigsten Metropolen mit den Hauptstädten der Länder verbunden. Innerhalb weniger Jahre entstand ein dichtes Verbindungsnetz, in das alle wichtigen Plätze eingebunden waren. Ein erstes Seekabel zwischen England und Frankreich wurde 1851 im Ärmelkanal in Betrieb genommen, und sieben Jahre später folgte das erste Kabel von Deutschland nach England (Emden-Cromer). Nachdem sich 1857 auch Portugal und die Türkei angeschlossen hatten, war es um die Jahrhundertmitte in Europa prinzipiell möglich geworden, mit gewissen zeitlichen Verzögerungen quer über den Kontinent per Telegramm zu kommunizieren. Die stetig wachsende Nachfrage nach Telekommunikation ist vor dem Hintergrund der zunehmend sich beschleunigenden Industrialisierungsprozesse zu sehen.
Mit den ersten Fernstrecken trat das Problem der internationalen Weiterbeförderung von Telegrammen auf. So kam es bereits 1850 zur Gründung des Deutsch-Österreichischen Telegraphenvereins (DÖTV) zwischen Preußen, Österreich, Bayern und Sachsen, der den grenzüberschreitenden Telegrammverkehr regelte. Fünf Jahre später ging daraus der Westeuropäische Telegraphenverein (1855) hervor, der Vorläufer des 1865 gegründeten Welttelegraphenvereins.
Beim Aufbau der ersten Fernstrecken beschlossen die kontinentaleuropäischen Telegraphenverwaltungen die Staatstelegraphie für die Öffentlichkeit zugänglich zu machen, um die Investitionskosten zu decken, die jedoch nicht entfernt mit den Investitionsvolumina zu vergleichen waren, die mit dem Eisenbahnbau oder der Verlegung von Seekabeln verbunden waren.
Vorrangig waren es Wirtschaftskreise, die schnell auf das neue Medium zugriffen und dieses zu einem wichtigen Hilfsmittel von Fernhandel und Börse machten: Zu über 90 Prozent bestand der Telegrammverkehr aus Wirtschaftstelegrammen. Auch Nachrichtenagenturen gründeten sich auf die neue Technik und bedienten Presse und Öffentlichkeit mit Meldungen, die mit Hilfe der Telegraphie zahlreicher und schneller als je zuvor verbreitet werden konnten.
Das Telefon breitete sich seit den 1880er Jahren in Europa aus. Die Telegraphennetze hatten zu der Zeit eine sehr hohe Dichte erreicht. Das Telefon wurde in dieser Zeit dazu versendet, Telegraphenlinien auf Nebenstrecken zu ergänzen. An diesen neu eingerichteten Stationen nahmen Telefonisten Telegramme auf, die dann als Sprachmeldung an die nächste Telegraphenstation weitergegeben zu werden. Von dort wurde das Telegramm kodiert per Telegraph an den Zielort übertragen. Daneben breitete sich das Telefon in den Städten aus und wurde zum wichtigen Hilfsmittel von Banken, Handel und Börse. Die Anwendung des Telefons im Fernverkehr war vor dem Ersten Weltkrieg durch die geringe Reichweite begrenzt.
Ein hohes Telegrammaufkommen führte rasch zur Nachrüstung der Kabelkapazitäten durch zusätzliche Leitungen und leistungsstärkere Apparaturen. Bis zum Jahr 1866, als das erste funktionstüchtige Atlantikkabel realisiert wurde, verfügten die europäischen Staaten bereits über Netze von hoher Dichte mit Mehrfachkapazitäten zwischen den wichtigsten Plätzen und Metropolen und konnten einen täglichen Massenbedarf bedienen. Bis zum Ersten Weltkrieg wurde das Netz zunehmend erweitert und modernisiert.
Ebenso intensiv wurde bis zum Ersten Weltkrieg das US-amerikanische Binnennetz, wiederum vielfach entlang der neu entstehenden Eisenbahnstrecken ausgebaut. Dieses Binnennetz zwischen Ost- und Westküste war ein wichtiger Bestandteil des weltumspannenden Weltkabelnetzes, das 1902 entstand.
Literaturhinweise:
- Reindl, Josef: Der Deutsch-Österreichische Telegraphenverein und die Entwicklung des deutschen Telegraphenwesens 1850-1871, Frankfurt/Main1993.
- Wobring, Michael: Die Integration der europäischen Telegraphie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Henrich-Franke, Christian; Cornelius Neutsch; Guido Thiemeyer (Hrsg.): Internationalismus und Europäische Integration im Vergleich. Fallstudien zu Währungen, Landwirtschaft, Verkehrs- und Nachrichtenwesen, Baden-Baden 2007, S. 83-112.