Galizien-Mythos
Beitrag und Fotos von Lisa Braun
Der Galizien-Mythos als verklärtes Bild der guten alten Zeiten während der Habsburg Monarchie. Diese Mythologisierung, man denke nur an die „Sissi-Filme“, stellte sich nach den beiden verheerenden Weltkriegen ein, aus welchen die brutale Zerstörung des multikulturellen Mitteleuropas durch die Nazis und die Sowjets resultierte. Auf dieser Grundlage erschien das Habsburger Reich als Idylle einer großen Völkerfamilie, von der in Galizien nur mit Einschränkungen gesprochen werden kann. Richtig ist allerdings, dass viele Völker in Galizien beheimatet waren. Lemberg zählte 1900 160.000 Einwohner, davon waren mehr als die Hälfte Polen, rund 45.000 Juden und 30.000 Ruthenen. Letztere waren jedoch auf dem Land in der Mehrzahl.
Nach der ersten Teilung Polens 1772 fiel das ehemals polnische Galizien an Österreich-Ungarn und wurde in „Galizien und Lodomerien“ umbenannt. Jospeh II. war sehr an der Modernisierung seines Reiches interessiert, was sich auch in Lemberg bemerkbar machte: die polnischen Adligen wurden durch ausgebildete Beamte aus Österreich und Böhmen ersetzt, die direkt der Regierung in Wien unterstanden. Deutsch wurde als Amtssprache eingeführt, außerdem ließ Joseph II., der den aufgeklärten Absolutismus vertrat, mehrere Klöster enteignen. Aus dem Garten des Jesuitenordens entstand ein öffentlicher Park, der heute im Volksmund noch immer seinen ursprünglichen Namen trägt. Des Weiteren wurde im Gebäude des Ordens eine neue Universität gegründet, an der anfangs noch auf Lateinisch und Polnisch, später dann in deutscher Sprache gelehrt wurde.
In der Folgezeit kam es immer wieder zu Konflikten mit der polnischen Bevölkerung, die sich durch die Regierung in Wien bevormundet fühlte (Germanisierung). Außerdem kam es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen der polnischen und der ruthenischen Bevölkerung. Erstere wollten die Ruthenen nicht als eigenständige Nation anerkennen, während die Ruthenen sich aus der Unterdrückung und Leibeigenschaft durch polnische Adlige auf dem Land befreien wollten.
Inzwischen hatte Franz Joseph I. den Thron bestiegen, der es aber auch nicht schaffte, diesen fortwährenden Konflikt vernünftig zu lösen. Im Jahr 1867 kam es zum österreichisch-ungarischen Ausgleich und damit zur Selbstverwaltung Galiziens. Deutschsprachige Beamte verließen in der Folge Lemberg; Polnisch wurde erneut zur Amtssprache. Durch den Anschluss an das Eisenbahnnetz und die Entdeckung von Bodenschätzen kann ab 1867 von einer Blütezeit in Galizien gesprochen werden, die mehr als 50 Jahre andauern sollte. Zwischen 1878 und 1881 erstreckte sich der Bau des galizischen Landtages, der im Stil der Neorenaissance gestaltet wurde. Im Jahr 1900 wurde das Theater in Lemberg eröffnet, in welchem sich heute das Opernhaus befindet. Es beeindruckt durch eine pompöse Stilmischung aus Wiener Neorenaissance und Neurokoko. Des Weiteren wurde 1904 der Hauptbahnhof Podzamcze errichtet, der sich am Fuße des Schlossberges befindet. Er war seiner Zeit einer der modernsten Bahnhöfe innerhalb der österreichisch-ungarischen Monarchie, an dem Züge aus Wien, Berlin, London und Paris ankamen und den Züge in östliche Richtung nach Odessa und St. Petersburg verließen. Lemberg zeigte sich als pulsierende und kosmopolitische Stadt, welche sich gerne auch als „Klein-Wien“ bezeichnete.
Neben der polnischen und ruthenischen Bevölkerung prägte auch die jüdische Volksgruppe das Straßenbild in Galizien. Im 19. Jahrhundert lebten ungefähr 800.000 Juden in Galizien. Das Zusammenleben der verschiedenen Ethnien gestaltete sich zwar eher in einem „Nebeneinander“ als in einem „Miteinander“: man machte Geschäfte zusammen, aber sonst ging man sich, auch wegen des unterschiedlichen kulturellen Alltags, aus dem Weg. Dennoch war die lokale Identität wichtiger als die nationale Zugehörigkeit und stand somit über Antagonismen und Rivalitäten zwischen den Bevölkerungsgruppen. Das hätte noch lange gutgehen können, wenn nicht die beiden Weltkriege über die Stadt hereingefallen wären.
Am 26. Juli 1944 überließen die deutschen Truppen Lemberg kampflos der Roten Armee. Die Stadt blieb damit äußerlich unbeschädigt, innerlich aber war sie schwer verwundet. Von ursprünglich etwa 300.000 Einwohnern lebte etwa nur noch die Hälfte. Die Lemberger Juden waren fast alle tot. Aus der blühenden Metropole jüdischer Kultur war eine Stadt ohne Juden geworden, auch im Umland waren die jüdischen Dörfer verlassen. Mit den sowjetischen Machthabern setzte sich die innere Zerstörung Lembergs fort: Deportationen von Westurkainern in den Osten und der polnischen Bevölkerung Galiziens nach Schlesien. Russen und Ukrainer besiedelten in der Folge die leeren Häuser.
Lemberg hatte 90 Prozent seiner ursprünglichen Bevölkerung verloren. Das multikulturelle Lemberg war untergangen und teilte damit sein Schicksal mit Czernowitz. Auch hier kann also vom Galizien-Mythos bzw. Lemberg-Mythos gesprochen werden, von Städten die in ihrem Inneren zerschlagen wurden, sodass man sich heute kaum vorstellen kann, welch bunte Vielfalt dort während der Habsburger Monarchie anzutreffen war. Damit erscheint es gar nicht mehr so verklärt, von einer Idylle in Galizien während der Habsburger Monarchie zu sprechen.
Auch wenn die Bevölkerung heute nicht mehr die ist, welche sie einmal war, findet man die Spuren dieser verschwunden Völker wieder. Die armenische Kirche, die katholische Kirche, die jüdische Synagoge, die heute allerdings nur noch zu erahnen ist,
sowie die orthodoxe Kirche: alle finden nebeneinander Platz. Schaut man genauer hin, entdeckt man auch noch die ein oder andere deutsche oder hebräische Inschrift an Geschäften oder Wohnhäusern, die meisten nicht mehr im Original, aber immerhin in neuer Form aufgearbeitet.
Die Vielsprachigkeit im Alltag ist allerdings vollständig verloren: Ukrainisch beherrscht die mündliche und schriftliche Sprache in Lemberg.
Nach der Revolution auf dem Maidan muss nun erst einmal die ukrainische Geschichte aufgearbeitet werden. Für die kritische Aufarbeitung der jüdischen und deutsch-österreichischen als auch der ukrainischen und polnischen Geschichte in Galizien braucht die Ukraine offensichtlich noch Zeit.
Literatur
- Klevemann, Lutz C.: Lemberg. Die vergessene Mitte Europas, Berlin 2017.
- Pollack, Martin: Galizien, Berlin 2016.