Zwischenkriegszeit und polnisches Lwów

von Daniel Norden

 

Lviv war der Anlaufpunkt verschiedenster Großreiche. Die Bevölkerung der Stadt war immer von einer multiethnischen Struktur gekennzeichnet; so lebten unter anderem Deutsche, Polen, Juden, Armenier, Ukrainer, Tschechen, Moldawen, Tataren und Sarazenen in der Stadt miteinander. Ab Mitte des 14. Jahrhunderts war Lwów, wie es in Polen genannt wird, unter der Herrschaft der polnisch-litauischen Union. Kasimir der Große verlieh der Stadt 1356 das Magdeburger Stadtrecht. Doch trotz allen polnischen Einflusses, der sich besonders im 16. Jahrhundert intensivierte, blieb Lwów immer eine Stadt mit Bedeutung für die anderen dort lebenden Kulturen. Der polnische König holte zum Beispiel deutsche Siedler nach Lwów, die ihr eigenes Stadtrecht ausüben durften. Während dieser Zeit musste sich Lwów mehreren Belagerungen, Epidemien und Überschwemmungen erwehren. Besonders die Belagerungen der Kosaken und Tataren 1648 und 1655 sind weiterhin Teil des Identitätsbewusstseins. Die Herrschaft hielt jedoch bis zur ersten polnischen Teilung 1772 stand, als das Gebiet erstmals an Österreich-Ungarn fiel. In die erste Periode des polnischen Einflusses fallen viele Gebäude, die auch weiterhin die Stadt zieren. Besonders die Sakralbauten stechen hier heraus, die einen der Vorposten des polnischen Katholizismus bilden sollten, damit einher ging eine Gründungswelle von Klosterbauten in Galizien. Doch nicht nur die Kirchen bestimmten das Stadtbild der polnischen Herrschaft, die erprobten Verteidigungsmauern mit dem Krakauer und Galitzki Tor, das Rathaus und die Hohe Burg taten dies ebenfalls. Es dauerte circa 150 Jahre, bis Lwów wieder unter polnische Herrschaft kam. Nach dem Zusammenbruch des österreich-ungarischen Reiches kam es zu erbitterten Kämpfen zwischen der ukrainischen Unabhängigkeitsbewegung und den polnischen Freiwilligenlegionen, die um Galizien und Lwów rangen.

 

Nachdem sich letztendlich die polnischen Freiwilligenlegionen durchsetzen konnten, wurde Galicja der Region Małopolska (Kleinpolen) zugeschlagen und verlor dabei formell ihre Unabhängigkeit; Hauptstadt der Region Małopolska war nun Kraków. Lwów erhielt den Hauptstadtstatus einer Wojewodschaft. Der polnische Sieg ging einher mit dem ersten Pogrom, welches in Lwów verübt wurde. Vom 22.-24.11.1918 entlud sich nach polnischem Sieg der Frust auf die jüdische Bevölkerung. Polnische Milizionäre und Marodeure töteten circa 73 Personen und wurden von polnischen Zivilisten dabei unterstützt. Dieses Pogrom ging einher mit tagelangen Plünderungen und Vergewaltigungen und rührte daher, dass die jüdische Bevölkerung des Verdachts bezichtigt wurde, mit den Ukrainern zu kollaborieren. Ähnliche Vorwürfe gab es auch von ukrainischer Seite. Letztendlich war es der Schlussstrich der jahrelangen Mittlerrolle der jüdischen Bevölkerung in der Stadt, die sich auch in diesem Konflikt weitestgehend neutral verhalten hatte. Die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs und des Zerfalls der öffentlichen Ordnung förderten jenes rücksichtlose Verhalten sowie das Zusammenbrechen eines jahrhundertelangen Miteinanders zwischen Polen und Juden. Die endgültige Entscheidung über dieses Gebiet wurde erst 1923 auf einer Botschafterkonferenz in Versailles getroffen. Bei dieser wurde Ostgalizien endgültig Polen zugesprochen. Polen musste jedoch die nationalen Minderheiten in diesem Gebiet anerkennen. Während der Zwischenkriegszeit waren ungefähr die Hälfte der Einwohner Lwóws Polen, 30-35 Prozent waren Juden und 12-16 Prozent Ukrainer. Trotz dieser Mehrheiten im Lwówer Stadtgebiet blieb Lwów in Galicja weiterhin das Zentrum der Polonität. Im Landgebiet war das Verhältnis umgekehrt; circa zwei Drittel der Bevölkerung zählten sich zur ukrainischen Bevölkerung. Durch die aggressive Polonisierungspolitik, besonders forciert durch die Nationaldemokratische Partei unter Roman Dmowski, kam es zur Verweigerung kultureller Rechte für die ukrainische Bevölkerung und einem offenen Antisemitismus gegenüber der jüdischen Bevölkerung. Diese Strömungen gediehen aus dem Selbstverständnis heraus, dass die polnische Kultur den Ukrainern überlegen sei und diese sich demzufolge assimilieren müssten. Infolge dieses Assimilierungsprozesses sollte eine Abkehr des Nationalismusbestrebens erwirkt werden. Etwaige Annahmen erwiesen sich als fehlgeleitet. Nach mehreren Mordanschlägen beider Seiten Anfang der 1930er Jahre kam es zu einer weiteren Zuspitzung der Geschehnisse am Ende dieses Jahrzehnts. So war 1938 von erneuten pogromartigen Zuständen die Rede.

 

Insgesamt wurde bei der vollzogenen Erinnerungspolitik die polnische Geschichte ins Zentrum der Stadt gerückt. Lwów war Fixpunkt des Gründungsmythos der Zweiten Polnischen Republik, demzufolge wurde zum Beispiel die Hauptstraße nicht mehr Wały Hetmańskie (Hetmanswall), sondern Wały Legionów (Wall der Legionen) genannt, um damit einen direkten Bezug auf die Freiwilligenlegionen zu nehmen, die 1918/1919 gegen die Ukrainer in Lwów gekämpft hatten. An jene Orlęta Lwowskie (Lemberger Adler) wurde außerdem jährlich bei einem Zeremoniell auf dem Lytschakiwski-Friedhof gedacht. Der Kampf um Lwów sollte als Symbol des Kampfes für ganz Polen und seiner Grenzen stehen. Doch gab es weiterhin Inseln in der Stadt, die Anlaufpunkte für einen Austausch aller Bevölkerungsgruppen waren. Das Szkocka, das Atlas oder das Pod gwiazdka sind nur eine Auswahl von Kneipen, in denen die Lwówer Bevölkerung plurinationalistisch zusammenkam und sich über ethnische Grenzen hinweg stritt und argumentierte. Hier wurde zu Wissenschaft, Kunst und Politik meist gewaltfrei gestritten.

 

 

Literatur

  • Bakuła, Bogusław (2004): Zwischen Wissenschaft und Kunst. Lembergs Kneipen in den 30er Jahren. In: Osteuropa, Jg. 54, H. 3, S. 3–15
  • Bechtel, Delphine (2008): Von Lemberg nach L'viv. Gedächtniskonflikte in einer Stadt an der Grenze. In: Osteuropa, Jg. 58, H. 6, S. 211–227.
  • Horbatsch, Anna-Halja (1993): Polnische Stadt und ukrainische Minderheit. Nationale Gegensätze im Lemberg der Zwischenkriegszeit. In: Fäßler, Peter, u.a. (Hg.), Lemberg-Lwów-Lviv. Eine Stadt im Schnittpunkt europäischer Kulturen, S. 92-113.
  • Mick, Christoph (2003): Ethnische Gewalt und Pogrome in Lemberg 1914 und 1941. In: Osteuropa, Jg. 53, H. 12, S. 1810–1827.
  • Ther, Philipp (2001): Chancen und Untergang einer multinationalen Stadt: Die Beziehungen zwischen den Nationalitäten in Lemberg in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts     . In: Forschungen zur osteuropäischen Geschichte, Bd. 59. S. 123-146.
  • Tsybenko, Larissa (1998): Lemberg in der Frühen Neuzeit. Ein kulturgeschichtlicher Überblick. In: Klaus Garber (Hg.): Stadt und Literatur im deutschen Sprachraum der Frühen Neuzeit. Band II (39), S. 1007–1033.

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